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Wenn Antidepressiva keine Abhängigkeit auslösen – warum Absetzsymptome trotzdem häufig sind

Credits : iStock.com/nensuria


Schon lange wird diskutiert, ob Antidepressiva tatsächlich abhängig machen. Zwar führt ihre Einnahme nicht zur klassischen Medikamentenabhängigkeit – keine Dosissteigerung, kein Drogensehnsucht –, dennoch berichten viele Betroffene über Symptome nach dem Absetzen wie Schwindel, Kopfschmerzen oder Schlafstörungen.


Meta-Analyse: Jede dritte Person betroffen – doch Nocebo-Effekt entscheidend
In einer aktuellen Metaanalyse (Lancet Psychiatry, Juni 2024) werteten Forschende der Charité und der Uniklinik Köln 79 Studien mit insgesamt rund 21.000 Teilnehmenden aus:

GruppeAnteil mit Absetzsymptomen
Antidepressivaca. 31 %
Placeboca. 17 %

Ergebnis: Rund 14 % sind medikamentbedingt betroffen – das entspricht etwa jeder sechste bis siebte Person. Die andere Hälfte der Beschwerden geht auf psychologische Faktoren zurück, vor allem auf den Nocebo-Effekt. Nur in rund 3 % der Fälle sind die Symptome ernst genug, um als schwer eingestuft zu werden .


Häufige Symptome beim Absetzen
Typische Beschwerden sind:

  • Körperlich: Schwindel, Kopf- und Gliederschmerzen, Übelkeit, Magen-Darm-Probleme
  • Psychisch: Angst, Reizbarkeit, Nervosität, Schlafstörungen, „Brain Zaps“ (kurze, blitzartige Neuronensignale)

Schwere Symptome – wie anhaltende Verwirrtheit oder Extremformen von Stimmungsschwankungen – sind deutlich seltener und meist mit bestimmten Wirkstoffen wie Imipramin, Paroxetin, Venlafaxin und Desvenlafaxin verbunden.


Warum treten diese Symptome auf?
Antidepressiva regulieren das Gehirn über Wochen bis Monate, indem sie etwa Serotonin langfristig erhöhen. Wird die Wirkung abrupt unterbrochen, reagiert der Körper mit einem Ungleichgewicht – vergleichbar mit einem Entzug. Eine besonders kurze Halbwertszeit des Wirkstoffs erhöht das Risiko . Hinzu kommt der psychologische Faktor: Wer mit Ängsten oder negativen Erwartungen absetzt, erlebt deutlich mehr Symptome – der Nocebo-Effekt.


Ausschleichen ja oder nein? Empfehlungen im Überblick
Medizinisch ist ein langsames Ausschleichen zwar sinnvoll, aber nicht für jede Patientin nötig. Die Autoren der Meta-Analyse kommen zu folgendem Urteil:

  • Die Mehrheit der Behandelten kann Antidepressiva ohne relevante Symptome absetzen
  • Nur rund 3 % erleben schwere Symptome
  • Die Nocebo-Effekte lassen sich durch gute Aufklärung und eine unterstützende Begleitung reduzieren

Empfohlen wird dennoch:

  1. Frühzeitige Aufklärung
    Bereits zu Beginn der Therapie sollten Ärzte und Patienten gemeinsam über Absetzsymptome und deren Verlauf sprechen.
  2. Individuelle Strategie
  • Milde Symptome: oft kein langsames Ausschleichen nötig
  • Mittelschwere Symptome: individuell angepasstes Dosisreduktion oder kurzzeitig unterstützende Medikation möglich
  • Schwere Symptome: ärztlich überwachte Rückkehr zum vollen Wirkstoff mit späterem langsamerem Ausschleichen

Warum das Thema weiterhin wichtig ist
In Deutschland wurden 2022 knapp 1,8 Milliarden Tagesdosen Antidepressiva verschrieben. Da viele Patientinnen die Behandlung irgendwann beenden möchten, sind verlässliche Informationen und solide Therapiebegleitung unverzichtbar. Fehlende Aufklärung führt häufig zu Unsicherheit – dabei zeigen die Daten, dass ein sicherer Ausstieg bei überwiegender Mehrheit möglich ist.



Medizinische Fakten, klinische Erfahrungen und psychologische Aspekte greifen zusammen: Absetzsymptome sind häufig, aber meist harmlos. Eine sorgfältige Vorbereitung, enge ärztliche Begleitung und hierarchisierte Strategie – mild bis schwer – können Patienten helfen, den Übergang ohne Rückfall oder unnötige Angst zu bewältigen.


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